Was ich dir hier erzähle, ist meine Wahrnehmung. Es ist meine persönliche Geschichte.
Ein Blick hinter den Schleier
Ich sitze zuhinterst auf einem Stuhl in einem Raum der Kirche in Dietikon. Vor mir reihen sich mehrere Stuhlreihen, auf denen vor allem Frauen sitzen. Alle lauschen gespannt dem Vortrag, der von Engeln handelt. Die Rednerin spricht mit strahlender Begeisterung über ihre Erfahrungen.
Ich höre aufmerksam zu, als plötzlich etwas Unfassbares geschieht: Bei einer Frau, die zwei Reihen vor mir sitzt, taucht auf ihrer linken Schulter wie aus dem Nichts ein Vogel auf. Er ist etwa 30 Zentimeter gross, pechschwarz und sieht aus wie ein Rabe. Verblüfft beobachte ich ihn. Doch noch bevor ich das Gesehene richtig begreifen kann, bemerke ich aus den Augenwinkeln, dass auch bei anderen Menschen solche Raben erscheinen, immer auf der linken Schulter.
Dann passiert etwas, das mich erschüttert: Der erste Vogel, den ich gesehen habe, dreht langsam seinen Kopf und schaut direkt zu mir. In diesem Moment spüre ich eine Welle unbändiger Wut, die von ihm ausgeht. Es ist, als ob er mich anklagt, als ob ich etwas gesehen hätte, das ich nicht sehen sollte. Eine solche Intensität von Hass und Zorn hätte ich nie in einem so kleinen Wesen erwartet.
Ich bin völlig irritiert, meine Aufmerksamkeit für den Vortrag ist verschwunden. Alles, worüber die Rednerin spricht, gerät in den Hintergrund. Stattdessen fixiere ich diese merkwürdigen Vögel, die alle auf der linken Schulter der Menschen sitzen.
Als ich später nach Hause gehe, versuche ich, das Erlebte zu verstehen. Doch egal, wie lange ich darüber nachdenke, ich finde keine Erklärung dafür. Was bleibt, ist das Bild der schwarzen Raben und das Gefühl, etwas Ungewöhnliches gesehen zu haben, etwas, das ich mir nicht erklären kann.
Die zwei Begleiter
Etwa zehn Jahre später sitze ich auf dem Boden eines Sufiseminars in Zürich. Die Atmosphäre im Raum ist ruhig, während der Sufimeister über spirituelle Themen spricht. Seine Worte erfüllen den Raum, getragen von seiner ruhigen Stimme. Doch plötzlich spricht er etwas aus, das mich aufhorchen lässt.
Er erzählt von unsichtbaren Begleitern. Zwei Wesen, die auf unseren Schultern sitzen: eines links, eines rechts. Mit einem Schlag werden meine Erinnerungen an die schwarzen Raben von damals lebendig.
In mir regt sich etwas. Seine Worte rufen das Bild jener schwarzen Raben zurück, die ich damals in Dietikon gesehen habe. Nach dem Vortrag gehe ich, ohne lange zu überlegen, direkt zu ihm. Ich schildere ihm, was ich gesehen habe, meine Verwirrung, die Unruhe, die mich seit jenem Tag nicht mehr loslässt.
Er hört interessiert zu, ohne mich zu unterbrechen. Und erzählt mir, dass die zwei Engel jede unserer Taten aufzeichnen. Die guten auf der einen, die schlechten auf der anderen Seite. Diese Worte lassen mich nicht mehr los.
Das, was ich gesehen habe, war ein Blick hinter den Schleier. Dieser Schleier verdeckt manchmal besonders die linke Seite, damit wir nicht sehen, was dort geschrieben steht.
Auf dem Heimweg kreisen meine Gedanken unaufhörlich um das Gehörte. Der schwarze Rabe, der mich anklagte, die Vögel, die auf den Schultern der anderen Menschen sassen. Könnte es sein, dass ich für einen Moment Zugang zu einer Ebene bekommen habe, die den meisten verborgen bleibt?
Von diesem Tag an beginne ich, genauer hinzusehen. Nicht nur auf die äussere Welt, sondern auch nach innen. Es fühlt sich an, als ob diese Begegnung mich auf eine Reise geschickt hat, die noch lange nicht zu Ende ist.
Ich beginne zu begreifen, dass manche Erkenntnisse ihre Zeit brauchen. Zehn Jahre mussten vergehen, bis ich anfing zu verstehen, was ich an jenem Tag in der Kirche gesehen hatte. Und vielleicht war dies erst der Anfang eines noch viel längeren Weges des Verstehens.
Die Verbindung zu den Adlern und Raben
Ich sitze im Inneren eines kleinen Flugzeugs, das mich nach Haida Gwaii bringt, einer abgeschiedenen Inselgruppe vor der Küste Kanadas, nördlich von Vancouver Island und nahe an Alaska. Die raue Schönheit dieser Gegend und die jahrtausendealte Kultur der Haida haben mich schon lange angezogen. Etwas hat mich hierher gerufen, zu diesem Archipel, wo die jahrtausendealte Kultur der Haida noch immer lebendig ist.
Schon Jahre zuvor hatte sich mir ein erstes Zeichen offenbart. An einem stillen Abend, als ich in meiner Badewanne lag, öffnete sich in mir eine Art Portal. In einem Zustand völliger Entspannung “sah” ich ihn plötzlich: einen majestätischen Weisskopfadler, der mit ausgebreiteten Schwingen direkt auf mich zuflog. Es war keine Einbildung, keine Traumsequenz. Die Vision fühlte sich realer an als die Fliesen an den Wänden. Von diesem Tag an wurde der Adler zu meinem unsichtbaren Begleiter.
Das Schicksal, so scheint es mir heute, hatte bereits früher feine Fäden gesponnen. Bei meiner Heirat nahm ich einen neuen Namen an: Krah. Ein Name, der mich unwissentlich mit der Familie der Raben und Krähen verband. Jenen Vögeln, die in der Mythologie der Haida eine zentrale Rolle spielen.
In diesem Teil von Haida Gwaii prägen zwei grosse Clans die Kultur: der Clan der Raben und der Clan der Adler. Diese beiden Gruppen stehen im Zentrum der Haida-Mythologie und mündlichen Überlieferungen. Der Rabe wird als Schöpferfigur verehrt, ein Wesen, das Transformation und Veränderung verkörpert. Der Adler hingegen ist ein Symbol für Stärke, Frieden und Führung. Ein Bote, der die physische und die spirituelle Welt miteinander verbindet.
Als ich diese Geschichten höre, kann ich kaum glauben, was ich fühle. Es ist, als ob wieder ein Puzzlestücke meines Lebens sich fügt. Doch davon später mehr. Mein Zimmervermieter, ein freundlicher Einheimischer, lädt mich ein, mit ihm seinen Bruder zu besuchen. Er ist Künstler, erzählt er mir, ein begnadeter Holzschnitzer. Am nächsten Morgen begleiten wir ihn in die Werkstatt, wo mehrere Familienmitglieder gerade an einem riesigen Totenpfahl arbeiten. Ich darf zuschauen, wie kunstvolle Schnitzereien entstehen. Kraftvolle Geschichten, festgehalten im Holz.
Nach einer Weile wechseln wir in einen angrenzenden Aufenthaltsraum. Eine Seite des Raumes ist mit Trommeln und Rasseln gefüllt, die für Zeremonien genutzt werden. Ein anderer kleiner Raum zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Dort hängen mehrere Kunstwerke an den Wänden, doch eines sticht mir sofort ins Auge.
Mein Atem stockt. Es zeigt eine Figur mit einem hohen Hut. Auf seinen Schultern sitzen zwei Wesen, eines rechts, eines links. Die Wesen erinnern mich an jene, die ich vor Jahren in einer Vision auf den Schultern anderer Menschen gesehen hatte. Als ich den Künstler nach ihrer Bedeutung frage, spüre ich sein kurzes Zögern.
„Das Wesen auf der rechten Seite“, sagt er, „ist da, um das aufzunehmen, was du richtig machst. Deine guten Taten.“
Ich nicke, doch er spricht weiter, seine Stimme wird ernster.
„Das Wesen auf der linken Seite jedoch… Er nimmt alles auf, was du nicht gut machst. Deine Fehler, deine Schattenseiten.“
Ich bin um die halbe Welt geflogen, habe unzählige Stationen und Begegnungen erlebt. Und doch höre ich hier, in einer abgelegenen Werkstatt in Haida Gwaii, die gleichen Worte wie vor vielen Jahren. Zum dritten Mal.
Die Flugshow des Adlers
Die Insel selbst scheint meine Geschichte zu bestätigen. Überall sehe ich Weisskopfadler und Raben, als wären sie die lebenden Botschafter dieser alten Weisheit. An einem besonderen Tag sitze ich mit einer Einheimischen auf einer kleinen Anhöhe am Meer. Was dann geschieht, raubt mir den Atem: Ein Weisskopfadler beginnt direkt vor uns, kaum zwei Meter entfernt, eine atemberaubende Flugshow. Von links nach rechts gleitet er durch die Luft, so nah, dass ich das Gefühl habe, ihn mit ausgestreckter Hand berühren zu können. Immer wieder fliegt er hinter uns durch. In diesem magischen Moment lasse ich meine Kamera bewusst ruhen und teile stattdessen mit meiner neuen Bekannten die Geschichte meiner zwei kostbaren Adlerfedern. Eine, die mein Sohn auf Vancouver Island fand, und eine andere aus einem mongolischen Adlerhorst, ein Geschenk meines Reiseführers.
Die Einheimische ist tief bewegt von dieser ungewöhnlichen Flugschau. Sie habe die Adler noch nie so fliegen sehen, gesteht sie mir. Am nächsten Tag überrascht sie mich mit einem besonderen Geschenk: zwei weisse Adlerfedern. Eine Geste von solch tiefer Bedeutung, dass sie mich zutiefst berührt.
Der Adler, der Rabe, die Reise… alles fügt sich zu einem grösseren Bild. Plötzlich ist da nicht nur eine Verbindung zu dieser alten Kultur, sondern auch zu mir selbst. Und doch ist da noch mehr. Es sind ja zwei. Ich forsche weiter.
Ich leite eine Schwitzhütte, als eine Teilnehmerin von Odin und seinen beiden Raben erzählt. Jeden Abend fliegen sie aus, um die Welt zu erkunden und kehren zurück, um ihm zu berichten. Ich höre fasziniert zu, denn seit geraumer Zeit nehme ich selbst zwei Vögel auf meinen Schultern wahr. Sie kommunizieren mit mir auf ihre Weise, als wären sie ein Tor zur geistigen Welt. Wenn ich sie ignoriere, spüre ich, wie sich mein Hals zuschnürt. Ich habe gelernt, innezuhalten und zuzuhören. Manchmal stelle ich ihnen Fragen, manchmal lasse ich sie vorfliegen. Sie kehren zurück mit Eindrücken, Wahrnehmungen, Botschaften. Ich gewöhne mich an sie. Manchmal vergesse ich sie sogar bis wieder etwas geschieht.
Die Begegnung mit dem Heiler
Der Flug nach Kongo war der Beginn einer Reise, die mich weit über fremde Landschaften und traditionelle Tänze hinausführen sollte. Eine Gruppenreise, doch mein eigentliches Ziel war ein anderes. Ich wollte einem Heiler begegnen. Einen Einblick gewinnen in eine Welt, die mir fremd war und doch tief vertraut schien.
Nach einer Woche war es soweit. Ich wurde begleitet von drei Männern und einer Frau. Ein seltsames Gefühl lag in der Luft. Unwirklich, fast traumartig, und doch fühlte ich mich sicher. Wir durchquerten das Dorf, vorbei an aufgetürmten Müllbergen, deren Ordnung in ihrer Perfektion faszinierte. Dann betraten wir das Grundstück des Heilers.
Ich wartete. Dann trat er aus dem Haus hervor: ein Mann in weissem Gewand, mit einem Hut auf dem Kopf. Wir betraten einen kleinen Raum, erfüllt von der Aura ritueller Gegenstände. Ich setzte mich, gespannt, was er mir sagen würde. Seine Worte waren sanft, sein Blick durchdringend. Doch die Sprache war eine Hürde denn er sprach Französisch. Dennoch folgte ich ihm so gut ich konnte.
Dann fragte ich nach den Vögeln.
Das Erstaunliche: Er sah sie auch. Seine Augen leuchteten, als er sprach. Boten, Begleiter, Unterstützer. Das seien sie. Ich lauschte seinen Worten und fühlte eine tiefe Bestätigung. Danach sass ich noch lange mit dem Übersetzer zusammen, um wirklich alles zu verstehen. Die Worte des Heilers nahm ich mit nach Hause, in meinen Alltag, in meine Arbeit.
Monate später reiste ich nach Sylt. Ein Ort, den ich schon lange besuchen wollte. Der Sommer machte die Insel lebendig, tauchte sie in ein Licht, das alles verzauberte. Mein Zimmer lag nahe am Meer. Wenn ich aus dem Fenster sah, spielten Hasen und Möwen auf der Wiese.
Ich erkundete die Insel, spürte den Sand unter meinen Füssen, die salzige Luft auf meiner Haut. Dann besuchte ich ein Heiligtum das einst dem Gott Odin geweiht war, jedoch nun eine Kirche war. Der Gott der Weisheit, der Kriegsgott, der Schöpfergott und seine zwei Raben. Ich stand davor, trat ein. Aber etwas fehlte. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte, doch eine Leere machte sich in mir breit.
Die Aufhebung der Grenzen
Die Vögel begleiten mich nun schon seit vielen Jahren. Sie sind einfach da. Mal präsenter, mal fast vergessen. Und genau so soll es sein. Sie sind meine Verbindung zur anderen Welt. Was sich verändert hat? Die Grenzen sind verschwunden. Nicht mehr schreibt der linke Vogel nur das Schlechte auf. Alles ist eins. Die Vögel sind da, fröhlich, leise, schützend, fordernd. Sie bringen mich zum Lachen, zum Nachdenken. Und was noch kommen mag, wird kommen.
Diese Reise mit den Vögeln war lang. Sehr lang. Literatur dazu? Kaum etwas, das mich weitergebracht hätte. Aber das spielt keine Rolle. Ich gehe meinen eigenen Weg. Schritt für Schritt enthüllt er sich mir. Und während ich meine Geschichte neu schreibe, wird sie immer spannender.
Diese Reise mit den Vögeln hat mich gelehrt, dass das Leben kein linearer Weg ist, sondern ein Tanz zwischen Licht und Schatten. Dass jede Erfahrung, ob gut oder schlecht, ein Teil meines Wachstums ist, ein Teil meiner Rückkehr zu dem, was ich wirklich bin. Und so gehe ich weiter, mit offenem Herzen und dem Wissen, dass alles miteinander verbunden ist.
Eine schöne Geschichte.
Der Rabe, als Hüter der Schwelle führt manchmal auf verschlungenen Wegen zur Erkenntnis.
Herzlichen Dank. Wege, die wir gehen dürfen. Liebe Grüsse Manuela
danke Manuela, dass du uns teilhaben lässt an deiner persönlichen Lebensgeschichte
Herzlichen Dank. Ich vertraue, dass das Leben mich dahin führt, wo ich sein will.
wunderbare Geschichte..danke Manuela, dass sie du öffentlich teilst…!! ❤️
Vielen Dank für deine Rückmeldung. Liebe Grüsse Manuela
Liäbi Manuela, e würkli spannendi Gschicht.
Danke fürs teile.
Fortsetzig folgt.…
Liebe Fulvia, vielen Dank für deine Rückmeldung.